Vertreibung
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus dem Braunauer Ländchen
Am 9. Mai 1945 marschierten die sowjetischen Truppen in das Braunauer Land ein. Die Tschechen bildeten sogenannte „Nationalausschüsse“, die nun die Verwaltung übernahmen. Partisanen, die sich oft erst nach Kriegsende zu Widerstandskämpfern erklärten, überschwemmten das Land. Unter dem Vorwand, SS-Männer zu suchen, wurden Häuser und Wohnungen durchstöbert und Wertgegenstände mitgenommen.
Das Mädchen Eleonore aus Rosental erinnert sich an diese rechtlose Zeit: „An einem Morgen Anfang Mai 1945 vernahmen wir Geräusche von Fahrzeugen und Fußtruppen von der Straße her, die sich von dem bisher Gehörten unterschieden. Der Rückmarsch der deutschen Truppen war in vollem Gange und dazwischen immer wieder Flüchtlingstrecks aus Schlesien. Diese nicht enden wollende Karawane quälte sich auf der schmalen Straße in Richtung Braunau. Ich weiß nicht mehr, wie lange das Treiben anhielt, auf jeden Fall bemerkten wir mit einem Male, dass es sich nicht mehr um den deutschen Rückmarsch handelte, sondern um den Einmarsch der Roten Armee. Panik brach aus. Die Flüchtlinge ließen ihre Fahrzeuge stehen und rannten querfeldein, um sich vor den Russen zu verstecken. Die Russen selbst gingen in die Häuser und holten sich, was sie gerade brauchten: Essbares, Decken, Kissen und anderes. Die Angst ging um. Frauen und Mädchen versteckten sich, so gut sie konnten, trotzdem kam es zu Vergewaltigungen und Plünderungen. (…) Geschäfte und auch das Kloster wurden sowohl von Russen als auch Tschechen geplündert.“
Aufgrund eines Regierungsdekrets vom 19. Mai 1945 wurden alle Sudetendeutschen als „unzuverlässig“ erklärt und ihr Besitz unter staatliche Verwaltung gestellt. Die Sparguthaben wurden beschlagnahmt, sie erhielten weniger Lebensmittel. Die Behörden setzten in allen Industrie-, Handels- und Gewerbebetrieben und auf den Bauernhöfen Verwalter ein. Die bisherigen Besitzer mussten oft als Untergebene weiterarbeiten. Willkürliche Volksgerichte verhängten Gefängnisstrafen und Zwangsarbeit in den Uranbergwerken in St. Joachimsthal oder in Lagern in der sowjetischen Besatzungszone und der UdSSR. Alle Deutschen im Sudetenland mussten nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges auf Anordnung der tschechischen Regierung Erkennungsarmbinden tragen, die sie diskriminierten.
Bald begannen wilde Vertreibungen. Viele Familien mussten ihre Wohnungen räumen, sich an bestimmten Orten versammeln, sie wurden dann an die schlesische Grenze getrieben und sich selbst überlassen. Eleonore berichtet: „Tschechische Milizen terrorisierten nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches auch unser kleines Braunauer Ländchen. An einem heißen Sommertag fuhr ein LKW durch die Dörfer, um alte Leute „aufzusammeln“, die dann in ein Lager nach Braunau gebracht wurden. Da meine Großmutter sich geweigert hatte, ihr Haus zu verlassen, wurde sie brutal angepackt und auf den LKW geworfen. Sie hatte nichts einpacken können, sondern besaß nur das, was sie auf dem Leibe trug. […] Nach ein paar Tagen Aufenthalt im Braunauer Vertreibungslager war Großmutter zusammen mit alten Leuten mit einem Transport nach Herrnskretschen (Hřensko) gebracht und von dort aus über die sächsische Grenze getrieben worden. Wir haben sie nie wieder gesehen.“ Diese „wilden“ Transporte betrafen viele Braunauer Bürger am 5.8.1945 und alte und gebrechliche Menschen, z.B. das Altersheim von Wekelsdorf, dessen Bewohner bereits am 13./14.7.1945 in offenen Kohlewagen nach Schirgiswalde bei Zittau gebracht wurden. Die Menschen wurden an der sächsischen Grenze einfach ihrem Schicksal überlassen und starben an den Strapazen und dem Hunger. Viele Schicksale konnten nie geklärt werden.
Foto in: Haase, Baldur: Rosental. Ein Rückblick auf die wechselvolle Geschichte des Dorfes Rosental/Rozmitál im Braunauer Ländchen. Forchheim 2022.
In der Zeit unmittelbar nach Ende des 2. Weltkrieges entluden sich der Zorn und der Hass der tschechischen Bevölkerung auch an den deutschen Einwohnern der Stadt Braunau und des Braunauer Ländchens. Sie wurden über Ottendorf nach Schlesien getrieben, mussten aber wieder zurück, da die polnischen Besatzungstruppen in Schlesien den Grenzübertritt verhinderten. Besonders tragisch war der Vorfall auf der Buche, dem 23 Wekelsdorfer Bürger am 30. Juni 1945 zum Opfer fielen, als sie über Merkelsdorf nach Friedland getrieben werden sollten. Sie wurden auf dem naheliegenden Buchenberg einfach erschossen und verscharrt. Unter ihnen drei Kinder und ein Säugling. Auf dem Weg, den die 23 Menschen zu ihrer Hinrichtung gehen mussten, befindet sich für jedes der Opfer ein Gedenkstein. Dieses Mahnmal wurde 2002 auf Initiative der früheren Bürgermeisterin Vitova von Teplice nad Metují/Wekelsdorf und des Heimatkreises Braunau errichtet.
Denkmal an der Buche/Wekelsdorf (Fotos privat)
Die Vertreibung der Deutschen aus dem Kreis Braunau erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 1946. Mit Ausweisungsbefehlen in tschechischer Sprache und mit Plakaten werden sie aufgefordert, sich in Sammellager zu begeben, um dort auf ihren Abtransport zu warten. Voraussetzung für die organisierte Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ost- und Mitteleuropa war die Potsdamer Konferenz der alliierten Siegermächte (17.7.-2.8.1945). Die Regierungschefs der UdSSR, der USA und Großbritanniens gaben ihre Zustimmung zu einer „Überführung“ der deutschen Bevölkerung, die „in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen“ sollte. Das erwies sich jedoch als ein fataler Trugschluss, der etwa 2 Millionen Menschen das Leben kostete.
Bereits 1945 wird Elfriede R. aus Dittersbach mit diesem Bescheid in tschechischer Sprache aus der tschechoslowakischen Republik ausgewiesen. Jedes erwachsene Mitglied der Familie darf 25 Kilo Gepäck mitnehmen. Ein Schriftstück informiert ebenfalls über die Beschlagnahme allen weiteren Eigentums und droht bei Nichtbefolgung oder Rückkehr mit der Todesstrafe.
Im August 1946 werden die deutschen Einwohner des Kreises Braunau durch Plakate darüber informiert, dass sie sich ohne Sondergenehmigung bis zum 10. September 1946 im Sammellager in Halbstadt einzufinden haben. Auch dieses Plakat ist in tschechischer Sprache verfasst. Lediglich im unteren Drittel werden die Punkte 4., 5. und 6. ins Deutsche übersetzt.
Eine Zeitzeugin erinnert sich: „Mitte Juli 1946 war es dann so weit. Ein Fuhrwerk kam bei uns vorbei und lud unsere Habseligkeiten auf. Wir durften eine Kiste und eine Lade mitnehmen. Kleidung trugen wir, trotz des heißen Tages, doppelt und dreifach übereinander. Zu Fuß trotteten wir zirka zehn Kilometer hinter dem Fuhrwerk her – bis nach Halbstadt ins Lager. Dort waren Etagenbetten aufgestellt und es hatten schon viele Menschen vor uns darin geschlafen: im Krieg Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, später Flüchtlinge aus dem Osten und jetzt wir. Immer zwei Personen wurden für ein Bett eingeteilt. Ich musste mit einem Mädchen zusammenschlafen. Nach der ersten Nacht hatte sie unzählige Bisswunden von Wanzen, die uns besucht hatten. Ich hatte glücklicherweise keine Beschwerden, diese hatten mein Blut verschmäht. … Wir mussten eine Woche im Lager bleiben, bis es mit dem Transport so weit war. Das Lager war rundum eingezäunt. Die Bewachung war nicht sonderlich streng. Wo sollte man bei einem Fluchtversuch auch hin?
Nach einer Woche wiederum wurden unsere Habseligkeiten auf Fuhrwerke verladen und wir gingen zum Bahnhof in Halbstadt. Der Zug stand schon bereit. Er bestand ausschließlich aus Viehwaggons. 60 bis 65 Personen mit Gepäck mussten sich einen Waggon teilen, man nannte es „einwaggonieren“. Als unser Wagen fertig beladen war, stellten tschechische Posten noch einen Kinderwagen auf die einzig freie Fläche an der Tür. Die junge Mutter konnte einem leidtun. Ihr Gepäck war wohl in einem anderen Waggon verstaut worden, wo aber für den Kinderwagen kein Platz mehr frei war.
Am 20./21. Juli setzte sich der Zug nach stundenlangem Warten in Bewegung. Wir rissen die weißen Armbinden mit dem N für Nemec von der Kleidung und warfen sie aus dem Waggon. Die Fahrt führte von Halbstadt über Prag, Eger, Bad Brambach, Plauen bis nach Altenburg in Thüringen. Am Bahnhof wurden wir entlaust. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich nackt in einer Schlange mit nackten Frauen und Mädchen zusammen, um auf die Entlausung zu warten. Ein Mann nahm uns die Kleidung ab, die separat desinfiziert werden sollte. Die ganze Situation war entwürdigend. Man wurde nicht als Mensch, sondern als Nummer geführt. …
In den zwei Tagen, in denen wir uns am Altenburger Bahnhof aufhielten, war der Großvater von Mariechen Birke aus Rosental spurlos verschwunden. Er wurde trotz intensiver Suche seiner Angehörigen nicht gefunden. Ob Selbstmord oder ein Verbrechen vorlag, wurde nie geklärt.“ „Verschollen“ nennt man so etwas. Allein im Lager Halbstadt sind über 80 Todesfälle nachweisbar, während der Transporte mindestens 36. 89 Selbstmorde sind vor den Abtransporten registriert worden.
Foto Bestand Heimatkreis Braunau
Transportzug in Halbstadt (Foto B. Haase)
Die ersten Transporte in offenen Güterwaggons (Foto Bestand Heimatkreis Braunau)
Zunächst in offenen, später in geschlossenen Güterwaggons wurden die Menschen vor allem in die amerikanische und sowjetische Besatzungszone abtransportiert. Die Abschiebung war bürokratisch gut organisiert. Dies zeigt „das Verzeichnis der im Transport vom 21.3.1946 […] abgeschobenen Personen.“ Neben den Namen sind jeweils auch Alter, Geschlecht und Beruf verzeichnet. „Transport aus Halbstadt im Jänner 1946 in Güterwaggon mit mehr oder weniger Gepäck in Säcken, Kisten usw. auf denen die vielen Kinder saßen, ohne Essen und Trinken. Manche hatten noch Lebensmittel dabei, andere mussten zuschauen. Ein Guckloch ermöglichte Sicht auf die Umgebung. Fahren, Stehen, wieder fahren. Ein Kanonenofen gab etwas Wärme in diesen kalten Wintertagen. Eine Latrine (Donnerbalken) mit tschechischen Soldaten ringsum als Bewachung, ermöglichte eine Erleichterung - mit Sicht auf Prag. In Furth im Wald erhielten wir das erste warme Essen (Suppe) und etwas zu trinken. Dort wurden wir in deutsche Personenwagen umgeladen, nachdem wir tüchtig mit DDT-Pulver eingestäubt wurden. Die Amis hatten […] ja so große Angst vor Krankheiten - und wir, dass wir Flöhe, Wanzen, und Läuse aus dem Lager mitbringen. Über Amberg ging es weiter nach Nürnberg/Fürth, Erlangen und Forchheim. Vom Erlanger Bahnhof weiter mit LKWs nach Kleinseebach, Möhrendorf, Eschenau usw. oder ins Lager Hilpertstraße.“
Vor diesem Transport liegt für die Familien bereits eine lange Odyssee. Für viele beginnt diese bereits im Herbst 1945, als sie mit je 25 Kilo Gepäck einen Zug mit 45 offenen Kohlewagen besteigen. Ihr Gepäck wird durchsucht, ihr Geld wird ihnen abgenommen. Der Zug besteht aus 45 solcher offenen Wagen. In jedem Wagen fahren um die 60 Menschen mit ihrem verbliebenen Gepäck Richtung polnischer Grenze. Nachts kann man im offenen Wagen die Sterne sehen. Zwei Tage und zwei Nächte steht der Zug am Rangierbahnhof in Halbstadt, bevor die Fahrt weitergeht. Doch die Grenze nach Schlesien darf der Zug nicht passieren. Während der Verhandlungen, ob der Zug über die Grenze gelassen wird, versorgen die noch verbliebenen Einheimischen die Menschen im Transport. Zwei Tage und zwei Nächte steht der Güterzug hier, bevor es zurück auf den Rangierbahnhof in Halbstadt geht. Hier steht der Zug noch eine weitere Nacht und einen weiteren Tag, bevor endlich entschieden ist, dass die „Passagiere“ zunächst ins Sammellager in Halbstadt sollen. In der Nacht auf dem Rangierbahnhof regnet es in Strömen. Notdürftig versucht man, sich Decken über den Kopf zu halten. Es hilft nichts. Die vielen Kinder im Transport schreien und die Alten, viele von ihnen um die 80 Jahre alt, fiebern. Erst Monate später, am 21.2.1946 geht es für viele Braunauer vom Sammellager in Halbstadt auf die Reise nach Bayern.
Literaturhinweise:
Weiterführender Link: Statistische Angaben zu Vertreibungstransporten aus dem Braunauer Land
Haase, Baldur: Rosental. Ein Rückblick auf die wechselvolle Geschichte des Dorfes Rosental/Rozmitál im Braunauer Ländchen. Forchheim 2022.
Meinusch, Christina/Reichert, Günter (Hgg.): (Nicht)gekommen, um zu bleiben. Vertreibung – Patenschaft- Partnerschaft. Ausstellungskatalog. Forchheim 2019.
Spitzer, Josef: „Das Schicksalsjahr 1945 – Die Vertreibung“, in: Das Braunauer Land. Ein Heimatbuch des Braunauer Ländchens, des Adersbach-Wekelsdorfer und Starkstädter Gebietes. Forchheim 1971, S. 679-687.